1964 rief Georg Picht die “Bildungskatastrophe”1 aus: Dem Bildungswesen, meinte er, drohe der Untergang, wenn nicht mehr Geld in Schulen und Universitäten investiert würde. Trotz eifriger Bemühungen war die Stimmung zu Beginn der 1980er Jahre nicht umgeschlagen, den Universitäten fehlte es an Geld, den Hörsälen an Sitzplätzen. Die Flutwelle junger Menschen, die ein Studium absolvieren möchten, hat bis heute nicht nachgelassen – eine Situation, der die Hochschulen auf Dauer nicht gewachsen sind. Neue, innovative Lösungen sind gefragt, doch das Bildungswesen zeigt sich seinem Ruf entsprechend beharrend, zögerlich und unflexibel. Bildungsexperten plädieren für mehr E-Learning und individuelle Stundenpläne. Statt in überfüllten Hörsälen sollen Vorlesungen nun online stattfinden.
Die Änderungen im Bildungswesen haben verschiedene Ursachen. So hat sich beispielsweise das Angebot an Studiengängen nach angelsächsischem Vorbild in den letzten Jahren stark erweitert. Neben einem Abschluss in klassischen Studiengängen wie Medizin, Jura, Geistes- und Wirtschaftswissenschaften kann man an Universitäten auch ein Diplom in Pop-Musik, European Studies und neuerdings auch Krankenpflege absolvieren2. Das Schlagwort der modernen Bildung lautet “interdisziplinär”: Studenten widmen sich einer Vielzahl von Fächern, um später bei Arbeitgebern höhere Chancen zu haben. Diese Erweiterung ist in gewissen Maße für die hohe Studentenzahl an deutschen Hochschulen verantwortlich.
Außerdem unterscheiden sich die Studenten von heute von ihren Vorgängern. Wurden noch vor 30 Jahren in der Universitätsbibliothek Bücher gewälzt, findet das Lernen heute immer mehr in digitaler Form statt. Die junge Generation – “digital natives” – kennt sich von Kindesbeinen mit IT-Technologie aus und macht sich diese auch beim Lernen zunutze. Informationen werden online aus allerlei Quellen bezogen, die oft aus dem englischsprachigen Raum stammen. Die Universität ist für diese Studenten nicht mehr dazu da, Wissen zu vermitteln. Es geht in erster Linie um den Abschluss, der zu einer gesicherten Position und einem guten Gehalt führen soll.
Das Internet sowie zahlreiche Foren und Plattformen haben dazu beigetragen, dass sich jeder bestimmtes Wissen in Sekundenschnelle aneignen kann. Online werden Sprachkurse mit Privatlektionen angeboten, Wissbegierige können sich in kürzester Zeit über verschiedene Themen von Kunstgeschichte bis Mikrobiologie informieren – von technischen Kniffen und Tüfteleien ganz zu schweigen. Als logische Folgerung bietet sich das Lernen per Internet an, das nun von vielen Universitäten erfolgreich eingesetzt wird. Statt im Halbschlaf im Hörsaal einzutrudeln, loggt man sich einfach bei einer Online-Vorlesung ein.
Noch ist das Studium an deutschen Hochschulen weitgehend kostenlos, doch bei einer wachsenden Anzahl von Studenten ist es durchaus denkbar, dass man sich auch hier einem angelsächsischem Modell zuwenden wird. In den USA und in Großbritannien ist ein Studium mit enormen Kosten verbunden. Viele Amerikaner zahlen noch im Rentenalter ihren Studienkredit ab. Wer sich in diesen Ländern bessere Chancen im Berufsleben erhofft, einen Studienkredit jedoch als allzu belastend empfindet, weicht auf eine Online-Universität aus. Da solche Universitäten über keinen Campus verfügen, ist das Studium um ein Vielfaches günstiger.
Die Idee, sich Wissen auf Distanz anzueignen, ist nicht neu. Erfolgte der Austausch früher über Briefe oder Telefonanrufe, werden heutzutage die Möglichkeiten des Internets ausgeschöpft. Ein MOOC – Massive Open Online Course – erlaubt es Tausenden von Teilnehmern, gleichzeitig an einer Vorlesung teilzunehmen. Vor allem in den USA erfreuen sich MOOCs großer Beliebtheit: Die New York Times rief 2012 das “Jahr des MOOC”3 aus, nachdem das Konzept der Online-Massenvorlesung auch in Eliteuniversitäten wie Princeton und Columbia Einzug gehalten hatte.
MOOCs sind attraktiv, denn sie bieten den von finanziellen Problemen gepeinigten Hochschulen eine günstige, unkomplizierte Alternative zur gewöhnlichen Vorlesung. Studenten hingegen haben dadurch mehr Spielraum und können auch in anderen Studiengängen herumschnuppern. MOOCs machen der Idee des “interdisziplinären Studiums” alle Ehre.
Auch im Internet lässt sich mit Bildung Geld verdienen: E-Learning-Plattformen wie Lecturio4 bieten Studenten Vorlesungen in verschiedenen Fächern an. Besonders beliebt sind die englischsprachigen Inhalte, die Medizinstudenten auf die amerikanischen Prüfungen vorbereiten sollen. Obwohl Lecturio mit mehreren deutschen Hochschulen wie der Friedrich-Schiller-Universität Jena und der Universität Leipzig zusammenarbeitet, setzen sich nur sehr wenige Dozenten für diese neue Bildungsstrategie ein. Man handle mit dem “Allgemeingut Bildung”, heißt es von allen Seiten.
Tatsächlich müssen die Hochschulen hier um ihre Position bangen, denn Lecturio bietet einen deutlichen Mehrwert, der an deutschen Universitäten fehlt. Plattformen wie Lecturio sind auf die Wünsche des Verbrauchers ausgerichtet – eine Eigenschaft, der sich keine Hochschule rühmen kann. Wissen, welches man sich in der Vergangenheit nur vor Ort hätte aneignen können, wird heute per Mausklick geliefert.
Im Alltagsleben geht die Digitalisierung seit den 1990er Jahren mit Siebenmeilenschritten voran. Nicht so im Bildungswesen, wo Innovationen nur sehr langsam umgesetzt und allgemein eher ungern gesehen werden. Doch auch in diesem Bereich lassen sich die ersten zögerlichen Schritte beobachten. Moderne Universitätsbibliotheken sind nicht nur mit gedruckten Büchern bestückt, sondern bieten eine Umgebung, die ebenso “echt” wie “virtuell” ist. Der Austausch mit Dozenten erfolgt über E-Mail, und immer öfter kommt das System des “flipped classroom”, des “umgedrehten Unterrichts”, zum Zuge, wobei Studenten sich zu Hause anhand von Online-Vorlesungen mit dem Stoff auseinandersetzen und dieser im Nachhinein im Unterricht diskutiert wird.
Schon jetzt bieten mehrere US-amerikanische Universitäten eine Mischung aus Online-Vorlesungen und traditionellem Unterricht an. Diese Art der Wissensvermittlung erlaubt es Studenten, ihr Studium so individuell wie möglich zu gestalten, ohne dabei den Bezug zu Dozenten und anderen Studierenden zu verlieren.
Hochschulen haben daher eine Zukunft, wenn sie sich der Aufgabe stellen, ihre Innovationsfähigkeit zu beweisen.
Dr. Moritz Schulz,
Geschäftsführer